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Weinkulturelle Aspekte - August

Zurück zur Natur?
Es gibt immer noch Weinliebhaber und vermutlich auch Winzer, die feuchte Augen bekommen, wenn sie ein altes Weinetikett mit der Bezeichnung „natur“ erblicken. Die weinrechtliche Verwendung dieser und entsprechender Bezeichnungen war 1969 durch Angleichung an allgemeine lebensmittelrechtliche Regelungen verboten worden.

Dort führte jeder Zusatz fremder Stoffe (Schwefelung, Klärungsmittel etc.) zu einem Verbot dieser Bezeichnungen. Die Väter des 1930er Weinrechts hatten das laut Goldschmidt [1] flexibler gesehen: „Naturwein ist ein Erzeugnis, das in unverändertem Zustand, wie es die Natur geschaffen, als Produkt der Traube, ohne künstlichen Zusatz, also auch ohne Zucker- oder Zuckerwasserzusatz, in Verkehr gelangt […]. Die bei der Kellerbehandlung zum Zwecke des Ausbaues, Entkeimung, Naturmostzusatz […], der Fertigstellung und Entsäuerung erforderlichen Zusätze […] verändern nicht den Charakter des Naturweines.“ Ein Schelm, der Böses dabei denkt. Hans-Jörg-Koch verwies in seinem Weinrechts-Kommentar (1970, S. 346) bereits darauf, dass es sich bei der Weinkennzeichnung natur um einen gesetzestechnischen Begriff handelte, der sich nicht mit dem allgemeinen Sprachgebrauch deckte.

Wir wollen hier nicht in die jahrzehntelangen Weinrechtsstreitereien um die sog. Naturweine einsteigen, sondern den Begriff etwas historisieren. Wenn wir in alte Weinlexika oder Weinlehrbücher des 19. Jahrhunderts schauen, dann suchen wir vergebens nach dem Begriff Naturwein, der um die Jahrhundertwende (19./20. Jh.) noch keine Rolle spielte. Fritz Goldschmidt schenkte ihm in seinem Buch „Der Wein von der Rebe bis zum Konsum“ (Mainz 1900) keine Aufmerksamkeit. Die Begriffsgeschichte lässt sich bei der kellerwirtschaftlichen Bibel von Babo und Mach ablesen: in der 4. Ausgabe von 1910 wird Naturwein nicht erwähnt, ab der 5. Ausgabe 1921 zunehmend.

Warum kam der Begriff Naturwein Anfang des 20. Jahrhunderts in Mode?

Der Begriff ist historisch eng verbunden mit der Lebensreformbewegung, ein Oberbegriff für verschiedene soziale Reformbewegungen, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts insbesondere von Deutschland und der Schweiz ausgingen. Den Lebensreformern schien die bürgerliche Welt zu sehr von äußeren, materiellen Erfolgskriterien geleitet. Sie meinten, in der rationalen Ordnung der Industriegesellschaft seien die Beziehungen zur „natürlichen Umwelt“ verloren gegangen. Der Mensch sei seiner Natur entfremdet, das moderne Leben falsch geordnet, von seelenlosen Sachzwängen bestimmt. Es formierten sich organisierte Fluchtbewegungen: etwa aus der Großstadtkritik entstanden Gartenstadtsiedlungen und Landkommunen. Bei aller Vielfalt der „Zurück-zur-Natur“-Bewegung, die vom Vegetarismus über die Nacktkultur bis zum biologisch-dynamischen Landbaus eines Rudolf Steiners reichte, einte die Lebensreformer der Wunsch nach „Natürlichkeit, Wahrhaftigkeit und Echtheit“.

Wo bleibt die Wahrhaftigkeit?

In der Weinbranche wurde verstanden, dass der Begriff Natur dem Zeitgeist entsprach. Klingner brachte es deutlich zum Ausdruck: „Das Wort Naturwein hat eine außerordentlich große Zugkraft und propagandistische Wirkung, das muß weitgehend ausgenutzt werden.“[1]. Naturwein, naturrein, rein und echt wurden sogar im Weinrecht in einem Zuge verwandt und galt nur für ungezuckerte Weine. In den 1930er Jahren wurde ganz schön dick aufgetragen: „Der bescheidenste naturreine Wein verursacht nie, wenn nicht gerade in vernunftlosem Übermaß genossen, Kopf- und Magenweh. Nur unechte Weine und Weiber erregen Katzenjammer. Der Genuss eines guten Tropfens hat noch nie der Moral und der Gesundheit geschadet.“[2]. Interessanterweise wurde weder im 1909er noch im 1930er Weingesetz der Naturwein definiert, sondern lediglich Bezeichnungsverbote für gezuckerte Weine formuliert. Ein Bezug auf Anbaumethoden, wie sie Rudolf Steiner als „zurück zur Natur“ gefordert hatte, wurde überhaupt nicht in Erwägung gezogen.

Auch heute sind sog. Naturweine („natural wines“ etc.) in den meisten Weinländern in einer weinrechtlichen Grauzone. Anders in Österreich: Dort dürfen ausschließlich biologisch wirtschaftende Betriebe Landwein und Weine ohne nähere Herkunftsangabe, die eine Trübung und eine oxidative Note haben, mit der Bezeichnung natural wine in Verkehr bringen. Bei diesen Weinen darf keine Anreicherung zur Erhöhung des natürlichen Alkoholgehaltes, keine Süßung und kein Zusatz von Weinbehandlungsmitteln außer Bentonit und schwefliger Säure erfolgen; der zulässige Höchstgehalt an schwefliger Säure beträgt 70 mg/l inklusive der Analysetoleranz. Angaben wie „Naturwein“ sind auch in Österreich bei sämtlichen Weinen nicht zulässig. Wie dem auch sei: natural wines scheinen wieder wie vor 100 Jahren wieder in Deutschland, Österreich und vielen anderen Weinländern im Trend zu liegen, auch weil der Begriff Natur wie zu Zeiten der Lebensreformer Anfang des 20. Jahrhunderts eine große Zugkraft und werbliche Wirkung entfaltet. 

Und die Moral der Geschichte?

Die alten und neuen Diskussionen um die Begrifflichkeiten Naturwein oder natural wines sowie die damit vernetzten Begriffe wie naturrein, rein und echt machen mich nachdenklich. Warum bemüht sich die Winzerschaft so sehr, ihren wünschenswerten positiven Einfluss auf den Anbau und die Weinbereitung zu vernebeln? Die Natur liefert keinen trinkbaren Wein, ohne dass die Winzerin oder der Winzer aktiv wird. Ohne in die Tiefen der Kulturwissenschaft eintauchen zu müssen, bringt es bereits Wikipedia auf den Punkt: „Natur bezeichnet […] im Allgemeinen das, was nicht vom Menschen geschaffen wurde, im Gegensatz zur (vom Menschen geschaffenen) Kultur; so bezeichnet man beispielsweise mit dem Begriff Kulturlandschaft eine vom Menschen dauerhaft geprägte Landschaft. Die Weinbranche tut sich langfristig keinen Gefallen, wenn sie die Begriffe Natur und Kultur gleichsetzt oder umnebelt. Es ist eine weinkulturelle Leistung, wenn die Weinbranche Weine mit Hilfe moderner Technik erzeugt, die die Natur, Umwelt und Ressourcen immer weitgehender schont. Die Branche tut sich langfristig keinen Gefallen, wenn sie sich vom Wissenschafts- und Technikpessimismus, der sich in unserer Gesellschaft breit zu machen scheint, anstecken lässt. Fehlt es gar an einem weinkulturellen Verständnis, Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Verantwortungsbewusstsein? Der notwendige Diskurs über Nachhaltigkeit und Fortschritte in der Weinbranche, über die Zukunft der Weinkultur und der Kulturlandschaften sollte eine zielführende Überschrift tragen. Ich würde ihn nicht mit „Zurück zur Natur“ überschreiben, sondern den Fokus auf das verantwortungsvolle menschliche Handeln, auf die Weinkultur legen.  

Autor: Dr. Rudolf Nickenig, Remagen

 

 

[1] Fritz Goldschmidt: Das Weingesetz. Mainz (1932), S. 150.

[2] Heinrich Klingner: Das deutsche Weinbuch. Neustadt (1935), S. 433.

[3] Rheingauer Weinzeitung vom 1. Dezember 1934

Erstellt am
Weinkulturelle Aspekte 2022

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