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Interview mit Historiker Claudio Ferlan

Der italienische Historiker Claudio Ferlan, hat auf der Grundlage seiner Forschungsergebnisse ein spannend zu lesendes Buch „Sakraler Rausch, Profaner Rausch – Trunkenheit in der Alten und Neuen Welt“ geschrieben.

Im Vorwort der Herausgeber heißt es unter anderem: „Als Mitarbeiter des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient bezieht Claudio Ferlan seine Argumente und Beobachtungen auch aus dem transalpinen Trinkvergleich […]. Aber auch und gerade in Trient weiß man, dass sich solche Themen am besten bei einem Glas Wein besprechen lassen.“ Im Prinzip ja, in Coronazeiten ist leider nur ein Zuprosten via Zoom möglich. Und so sprachen Claudio Ferlan bei einem Glas Trentiner Malvasier und Rudolf Nickenig bei einem mittelrheinischen Riesling via Zoom über Beweggründe, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen des Autors. 

Nickenig: Herr Ferlan, vor kurzem erschien Ihr spannendes Buch ʻSakraler Rausch, profaner Rausch – Trunkenheit in der Alten und Neuen Weltʼ. Was waren Ihre Beweggründe, sich als Historiker mit dieser Thematik zu befassen?

Ferlan: Ich beschäftige mich als Historiker mit dem Christentum und insbesondere mit dessen Missionstätigkeiten. Beim Studium der Dokumente über die Missionen in Nord- und Südamerika entdeckte ich, wie viel Wert die Missionare auf Tischmanieren, Essen und Trinken legten. Ich wollte weiter nachforschen, und so entstanden zwei Bücher, eines über Trunkenheit und eines über Fasten. Das Buch über Trunkenheit wurde letztes Jahr ins Deutsche übersetzt, das Buch über das Fasten wird im März 2022 in Italien veröffentlicht.

Insbesondere die Trunkenheit ist eines der Themen, bei denen es zwischen Kolonisatoren und Eingeborenen zu einem grundlegenden Kommunikationsdefizit kam: Die europäischen Trinkgewohnheiten und -zeiten waren mit den amerikanischen Riten völlig unvereinbar. Das Thema ist aus historisch-religiöser Sicht von zentraler Bedeutung. 

Zum Thema Trunkenheit gibt es noch etwas zu bemerken. Ich bin in einem kleinen Dorf im Nordosten Italiens (Sagrado, in der Provinz Gorizia) aufgewachsen, wo Bars, Tavernen und Wein ein fester Bestandteil des täglichen Lebens im Dorf waren. Dies hat sicherlich dazu beigetragen, mein Interesse zu wecken.

Nickenig: Was können wir für die heutige alkoholpolitische Diskussion aus Ihrer geschichtswissenschaftlichen Analyse der kulturellen bzw. gesellschaftlichen Bewertung von Trunksucht und Trunkenheit lernen?

Ferlan: Ich glaube, dass uns die historische Forschung vor allem eine Lehre erteilt: die Wichtigkeit des Kontextes. Wenn wir über Trunkenheit sprechen, müssen wir, bevor wir rechtliche oder moralische Urteile fällen, verstehen, was es bedeutete, zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort betrunken zu sein. Dies gilt für jede historiografische Frage.

Essen und Trinken sind ein integraler Bestandteil von Gesellschaft und Kultur und daher von großer Bedeutung für die sozial- und kulturgeschichtliche Forschung. Im Falle meiner Forschung sind sie wichtig für das Verständnis der Religionsgeschichte. Ich glaube, dass diese Überlegungen auch für das Verständnis der heutigen Zeit gültig sind.

Es gibt noch eine Sache hinzuzufügen. Meiner Meinung nach müssen die Wissenschaften zusammenarbeiten, d. h. eine soziokulturelle Analyse des Alkoholkonsums muss mit der Medizin in Dialog treten, um das Gleichgewicht des Alkoholkonsums zu bewerten, ohne ihn zu verteufeln.

Nickenig: Sind wir auf dem Weg zu einer globalisierten Bewertung des Konsums alkoholischer Getränke?

Ferlan: Das glaube ich nicht. Die Kultur des Alkoholkonsums (ich spreche für die euro-amerikanische Welt, die ich studiert habe) ist stark an Orte gebunden. Es gibt Gewohnheiten, Beschreibungen, Dialektbegriffe, die meiner Meinung nach der Globalisierung widerstehen werden. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Als ich mit dem Schreiben dieses Buches begann, musste ich sofort versuchen, den Unterschied zwischen zwei spanischen Begriffen, 'embriaguez' und 'borrachera', zu verstehen, die in meiner Sprache mit demselben Wort 'Ubriachezza' übersetzt werden. Im Deutschen benutzen sie auch zwei Begriffe: Trunkenheit und Trunksucht. Um Geschichte zu studieren, muss man die Sprachen kennen, und ich glaube, dass das gleiche Prinzip auch für das Studium der Gegenwart gilt.

Nickenig: Welche Veränderungen bewirkt die Globalisierung konkret?

Ferlan: Ich glaube nicht, dass die Globalisierung bezüglich unserer Trinkmusterwirklich etwas Wichtiges verändert hat. Um es deutlicher zu sagen: Ich glaube nicht, dass es in einem Land wie Italien, in dem die Weinkultur sowohl aus gastronomischer als auch aus religiöser Sicht verwurzelt ist, zu großen, von der WHO diktierten Veränderungen kommen wird.

Ich bin Italiener, aber von dem, was ich über andere Kulturen weiß, kann man vielleicht dasselbe über die Bierkultur in Deutschland, aber auch in Österreich, in Tschechien, in Belgien sagen (oder über die des Gins in Großbritannien).

Auch bei alkoholfreien Lebensmitteln und Getränken glaube ich nicht an einen Strukturwandel: Fastfood, amerikanischer Kaffee, Coca-Cola haben in die Essgewohnheiten des mediterranen Europas Einzug gehalten, aber als Ergänzung, nicht als Ersatz.

Nickenig: Was sagen Sie auf der Grundlage Ihrer historischen Forschung zum Paradigmenwechsel der WHO, der durch einen Wechsel der Bekämpfung des schädlichen Alkoholkonsums hin zur Nulltoleranz geprägt ist?

Ferlan: Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Das Konzept der "Nulltoleranz" in Bezug auf Alkohol ist relativ neu. In meinen Studien habe ich sicherlich von Versuchen gehört, den Alkohol zu eliminieren, insbesondere bei den Indianerstämmen in Nordamerika. Aber es waren nur begrenzte Versuche: Europäer und Siedler konnten gefahrlos weiter trinken, die Eingeborenen nicht. Es war ein Denken, das auf der Überzeugung beruhte, dass sie überlegen waren, auf Ungleichheit. Ein ähnlicher Ansatz wäre heute nicht mehr möglich. Die Projekte des 19. Jahrhunderts scheiterten vor allem aus wirtschaftlichen Gründen: Der Verkauf von Whisky an die amerikanischen Ureinwohner war ein großes Geschäft. Und heute? Wie könnte die "Nulltoleranz" wirtschaftlich umgesetzt werden? Ich glaube an die Gültigkeit eines ausgewogenen und verantwortungsvollen Ansatzes, der sich auch auf die Kenntnis der Ernährungsgeschichte stützt.

Nickenig: Ein wesentlicher Teil Ihres informativen und spannenden Buches beschäftigt sich mit der Rolle des Alkohols während der Kolonialzeit. Haben die Europäer bei ihren unrühmlichen Welteroberungszügen die Trunksucht und den Alkoholismus globalisiert?

Ferlan: Sie haben es versucht und waren nur teilweise erfolgreich. Ab dem 16. Jahrhundert brachten die Europäer ein neues Konzept der Trunkenheit nach Amerika. In unserer europäischen Kultur bedeutet betrunken sein, zu viel zu trinken. In der Kultur der Inka und anderer indigener Völker bedeutet betrunken zu sein beispielsweise, zur falschen Zeit zu trinken, außerhalb des Rahmens eines Festes oder einer Feier. Es gab sogar Zeiten, in denen es nicht nur gesellschaftlich akzeptiert, sondern sogar notwendig war, sich zu betrinken. Die anthropologische Forschung lehrt uns, dass es diese Momente immer noch gibt. Wie bei vielen historischen Phänomenen hat auch hier die Trunkenheit neue, undenkbare Wege eingeschlagen: zum Beispiel der Wunsch bestimmter indigener Kulturen, zu trinken, um sich an ihre Vergangenheit zu erinnern und sie zu feiern, um bestimmte Rituale zu erneuern, die die Missionare auszulöschen versucht hatten.

Nickenig: Gehen wir noch etwas weiter zurück, ins Mittelalter. Ein Abschnitt Ihres Buches ist mit „Deutsche Trinkgelage“ überschrieben. Das Mittelalter wurde oft als Saufzeitalter bezeichnet. Zu Recht?

Ferlan: Das Deutschland gewidmete Kapitel entstammt einigen historischen Quellen, die mir sehr wichtig sind: Es beginnt mit Tacitus, der die ‘Germani’ beschreibt, und setzt sich mit Luther fort, der sich auch durch seine Essgewohnheiten von Rom distanziert. Ein weiteres grundlegendes Dokument war für mich die Beschreibung der lutherischen Trunksucht, die der Jesuit Pietro Canisio 1583 verfasst hatte. In diesen Beschreibungen ist oft von Bier die Rede, und um die Bedeutung von Bier zu verstehen, musste ich auch das Mittelalter studieren. Es gab viele Jahrhunderte des Alkohols, aber sicher nicht, weil man sich betrinken wollte. Es gab noch weitere Gründe: Es war nicht immer einfach, reines Wasser zu finden, alkoholische Getränke waren wichtig, um die Ernährung zu bereichern (das Frühstück mit Bier war eine Möglichkeit, genügend Kalorien für den Arbeitstag zu bekommen), und Alkohol hatte auch eine soziale Funktion. Denken Sie an die Pilgerväter auf der Mayflower, die Gin und Rum verwendeten, um das Wasser zu desinfizieren, das sie ihren Neugeborenen gaben!

NickenigSie beschäftigen sich auch mit den Orten des Trinkens, von den Wirtshäusern in Europa bis zu den Wirtshäusern in Übersee. In der heutigen Politik wird unter anderem überlegt, die Verkaufsorte (und Verkaufszeiten) für alkoholische Getränke stärker zurück.

Ferlan: Dies ist zweifellos der Fall. Tavernen sind seit Jahrhunderten gefährliche Orte, die die Behörden beunruhigen. In ihnen wurden Unruhen organisiert, es gab Schlägereien und Morde, Schmuggel und Prostitution blühten. Aus vielen Gründen und an vielen Orten wurde versucht, neue und alte Regeln durchzusetzen. In katholischen Ländern war es oft Pflicht, die Tavernen während der Messe zu schließen, damit die Männer (Frauen gingen selten in die Tavernen) die Messe besuchen konnten. Die große Zahl solcher Maßnahmen sagt uns eines ganz klar: Sie haben nicht funktioniert. Wenn ein Gesetz jedes Jahr neu geschrieben werden muss, bedeutet das, dass sich nur sehr wenige Leute daran halten. Dies zeigt sich beispielsweise sehr deutlich in den Gesetzessammlungen des bischöflichen Fürstentums Trient in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, aber das gilt auch für viele andere Orte.

Nickenig: Ich danke sehr für dieses Gespräch. Ihre geschichtswissenschaftlichen Forschungen beleuchten die aktuelle Diskussion in einer Art und Weise, die heute oft in den Hintergrund tritt. Sie unterstreicht auch die Bedeutung des kulturellen Backgrounds bei der Bewertung von Nutzen und Risiken beim Konsum alkoholischer Getränke.

Ferlan: Es ist mir eine große Freude, Ihnen meine Forschung vorzustellen. Ich bin nicht nur ein Geschichtswissenschaftler, sondern auch ein großer Fan der Geschichte, und ich glaube, dass die Geschichte für das Verständnis der Gegenwart von grundlegender Bedeutung ist.

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