Vor 121 Jahren. Scharmützel mit Antialkoholisten
Der Wein erzählt Geschichte(n) Folge 15
Wir Deutschen sind seit Napoleon gewohnt, in Dekaden zu rechnen und zu denken. Das Rheinland, in dem die Zahl 11 traditionsgemäß eine größere Bedeutung als 10 innehat, hat sich immer dagegen gewehrt. Wenn wir heute an Ereignisse im Jahr 1904, also vor 11x11 Jahren erinnern, so sollte man sie gemäß dieser karnevalistischen Arithmetik mit rheinischer Fröhlichkeit zur Kenntnis nehmen.
Die J-Kurve feiert rheinischen Geburtstag
In der zweiten Februar-Ausgabe No. 9 des Jahres 1904 der Allgemeinen Deutschen Weinfachzeitung Das Weinblatt war unter anderem zu lesen:
„In England, der Heimat der Temperenzler, regen sich sogar schon die Aerzte, um diesem modernen Unsinn [Anm. dem Antialkoholismus] ein frühes Grab zu bereiten. Die englische medizinische Zeitschrift „British Medical Association“ berichtet von den Ergebnissen einer ärztlichen Enquete, die zum Zwecke hatte, die Lebensdauer einzelner Kategorien von Menschen zu vergleichen im Hinblick auf den Konsum des einzelnen an Alkohol.
Die Untersuchung umfasste 4234 Fälle in vier Klassen und war das Ergebnis folgendes: Es erreichte eine durchschnittliche Lebensdauer von:
I. Temperenzler ohne jeden Alkoholgenuss: …51 Jahre 22 Tage
II. Normale, mässige Alkoholkonsumenten: …63 Jahre 13 Tage
III. Solche, die aus Unvernunft zu viel trinken,
ohne die Absicht, sich zu berauschen: …59 Jahre, 67 Tage
IV. Solche, die den Namen Trinker verdienen: …53 Jahre, 13 Tage
Die schädliche Wirkung eines übermäßigen Alkoholgenusses ist hiermit natürlich klar zu ersehen, besonders interessant aber ist es zu erfahren, dass die eigentlichen Temperenzler, denen die wohltätige Anregung des Alkohols gänzlich fehlt, nicht einmal das Alter der Säufer erreichen.“ Wir können die wissenschaftliche Methodik und das Zustandekommen der Ergebnisse dieser Untersuchung nicht überprüfen, aber ungeachtet dessen dürfen wir feststellen: Die J-Kurve grüßte bereits vor 121 Jahren!
Kleine Meldung
In der Ausgabe Nr. 16 des gleichen Jahrgangs war in Das Weinblatt folgende kleine Meldung zu lesen:Für Antialkoholiker. Einen Preis von 100.000 Mk. hat die russische Regierung für die Entdeckung eines Verfahrens, Alkohol völlig untrinkbar zu machen, ausgesetzt. Da fragt man sich heute: Fake oder wahr? Um Alkohol zu vergällen, dürfte die russische Regierung nicht bereit gewesen sein, 100.000 Mk. (Mark oder Rubel?) zu bezahlen. Aber wer versteht schon, was russische Regierungen denken oder dachten?
Kriminalitäts-Unterschiede zwischen schnaps-, wein- und biertrinkenden Ortschaften?
In der Ausgabe Nr. 32 des Jahres 1904 stand auf der ersten Seite im Weinblatt ein Bericht über eine Heerschau der deutschen Antialkoholiker in Hamburg-Altona. Es wurde über einen Vortrag eines Landrichters Dr. Popert berichtet, der von über 180.000 alkohol-verursachten Fällen pro Jahr vor deutschen Gerichten sprach. Nach seinen Ermittlungen – so der Richter – wirke Bier schlimmer als Schnaps und Wein wirke noch schlimmer als Bier! Die Durchschnittszahl der Verbrechen gegen die Person betrage für Gesamtdeutschland, auf die Jahre 1882-1893 (interessanterweise eine 11-Jahres-Periode!) berechnet, 163 auf 100.000 Strafmündige, im Schnapszentrum Bromberg betrage diese Zahl schon 317, im Bierzentrum München I 536, im Weinzentrum Pirmasens (Rheinpfalz) 604. Spöttisch stellte der Redakteur fest: Also Pirmasens gilt bei den Antialkoholisten als das Zentrum der Wein-Rheinpfalz! Es ist bekannt, dass Pirmasens eine hohe Ziffer in der Kriminalstatistik hat, es ist bekannt, dass Pirmasens in der Rheinpfalz ist, es ist aber auch bekannt, dass in Pirmasens kein Rebstock steht. Die Auseinandersetzungen der Weinbranche mit den Alkoholgegnern hatten damals durchaus karnevalistische Züge!
Intelligenz-Unterschiede zwischen wein- und biertrinkenden Ortschaften?
Und mit Humor sollte auch eine letzte Meldung aus dem Weinblatt des Jahrgangs 1904 (Nr. 37) zur Kenntnis genommen werden. Es geht dabei um die unterschiedlichen Auswirkungen des Konsums von Wein oder Bier bei Kindern (eine indiskutable Verhaltensweise in heutiger Zeit, denn alkoholische Getränke sind für Kinder tabu!):
Eine tüchtige Lehrkraft unserer Bekanntschaft teilt uns in dieser Beziehung mit, dass sie bei der Versetzung aus einer biertrinkenden in eine weintrinkende Ortschaft ganz erstaunt gewesen sei, mit welcher Leichtigkeit die weintrinkenden Kinder dem Unterrichte, besonders im Rechnen, folgen konnten, überhaupt wie schlagfertig, begabt und aufmerksam dieselben waren den anderen gegenüber, welche meist schläfrig dasaßen und nur mühsam die Aufgaben begriffen.
Elf mal Elf bleibt wohl immer Einhunderteinundzwanzig. Nur das Wissen, das Verhalten und die Bewertungen, vermutlich sogar der Humor, ändert sich in dieser Zeitspanne.
Rudolf Nickenig, Remagen
09.09.2025

