In diesem Jahr 2024 feiert der Deutsche Weinbauverband e.V. seine Gründung vor 150 Jahren. Als Gründungsversammlung wird der Önologen- und Pomologenkongress im September 1874 in Trier angesehen. Zwei wesentliche Probleme waren es wohl, die Wissenschaftler und Weingutsbesitzer damals veranlassten, einen neuen Verein zu gründen: die Reblaus-Gefahr und die sog. Weinfabrikation („Naturweinverfälschung“).
Weinkulturelle Diskurse vor 150 Jahren
Dieser Eindruck verfestigt sich, wenn man sich die Ausgaben der Deutschen Wein-Zeitung im Jahr 1874 ansieht, die bereits seit 1864 von der Buchhandlung J. Diemer herausgegeben wurde. Die Reblausschäden in Südfrankreich und die Ausbreitung der Seuche in nördlichere Gebiete wird immer wieder berichtet (s. Abb. 1). Und Prof. Dr. Julius Neßler schrieb in den Juli- und Ausgaben eine Artikel-Serie „Ueber Verfälschung der Nahrungs- und Genußmittel, besonders des Weines, und über Weinfabrikation“ (s. Abb. 2). Über keine andere Frage wurde mehr berichtet.
Aus heutiger Sicht ist interessant zu lesen, dass damals einerseits die Meinung verbreitet war, die Wissenschaft, insbesondere die Chemie, fördere mit ihren Fortschritten die Fälschung der Weine, andererseits seien die Menschen mehr als früher geneigt, Betrug zu begehen. In der Ausgabe vom 1. Juni 1874 berichtete die Redaktion der DWZ über einen gewissen N. aus H., der in mehreren Zeitungen folgendes annonciert habe:
„Kunstwein-Fabrication. Mit 50 fl. [red. Anm.: Gulden] Kapital jährlich Tausende Gewinn. Da von Deutschland aus meine Kunstwein-Vorschrift um mehrere hundert Thaler verkauft wird, so habe ich mich entschlossen, um diesem Schwindel zu begegnen, den Preis meiner Vorschrift auf 20 fl. herabzusetzen. Zur Erzeugung meines Kunstweines sind chemische Kenntnisse unöthig; derselbe wird ohne Trauben, Korinthen und Obst erzeugt (sic.), die Ingredienzien sind in jeder Spezereihandlung zu haben […].“
Professor Neßler lag mit seiner Einschätzung der Verfälschungsbereitschaft offensichtlich nicht falsch.
Schadet die sog. Weinverbesserung (bzw. die Weinfabrikation) der Weinkultur und der Gesundheit?
Die Weinfabrikation, also die umstrittene Weinherstellung mittels Zuckerzusatz und anderer Zusatzstoffe, wurde auch unter gesundheitlichen Aspekten kontrovers diskutiert. Die Einen befürchteten das Schlimmste: Die Weinfabrikation werde
„eine Decadenz der Weincultur unbedingt zur Folge haben. Ferner verständen die Fabrikanten in der Regel nicht einmal das Gallisiren u. s. w., sondern verwendeten meist die schlechtesten, mitunter gesundheitsschädlichen Ingredienzien dazu, wenn solche nur billig.“ Andere mahnten zu einer pragmatischen Vorgehensweise: „Man sollte deshalb die Weinverbesserung sofern sie nur öffentlich geschieht und das Produkt derselben nicht als Naturwein verkauft wird, nicht brandmarken, sondern vielmehr unterstützen und es anerkennen, daß dadurch dem Publikum ein gesundes Getränk zu billigem Preis verschafft wird. - Durch das unaufhörliche Geschrei: „Alles ist und bleibt Schmiererei, was nur im Geringsten am Wein gemacht wird" ist das weintrinkende Publikum so weit verhetzt, daß dasselbe das sauerste Getränk einem angenehmen verbesserten Weine vorzieht.“
Frost- und Hagelschäden – wiederkehrende Katastrophen oder Zeichen einer Klimaveränderung?
Aber auch andere Fragen trieben die Branche vor 150 Jahren um, und auch dies kommt uns derzeit nicht unbekannt vor: vom 28. auf den 29. April hatte es durch Nachtfröste erhebliche Schäden gegeben.
„Seit einiger Zeit beschäftigt man sich viel mit dem Weinwachsthum, dem verderblichen Einfluß der Spätfröste auf die Reben, und einige Personen, die stets Alles schwarz ansehen, stützten sich auf die jüngsten Verheerungen in den Reblanden, um die Behauptung aufzustellen, das Klima unserer Gegend und die Erdkruste fangen an zu erkalten, und hierin liegt die Ursache der atmosphärischen Katastrophen, die wir erleiden und von denen man früher nichts wußte. Hier wieder läßt sich leider der Spruch anwenden: „Neues hat die Sonne nie gesehen!" Was sich heute zuträgt, hat sich vor zweihundert, vor dreihundert Jahren zugetragen. Damals wie zu unseren Zeiten erfroren die Reben, […]“
Und diesen (heute wissen wir) unrichtigen Spruch versuchte man durch die Auflistung von Ernten und Witterungsereignissen über hundert(e) Jahre zu belegen. Inzwischen wissen wir, dass die Extremwetterereignisse keine immer wiederkehrende schlechte Laune der Natur sind, sondern durch unvernünftiges Verhalten der Menschen beeinflusst und verschlimmert werden (Stichwort Klimawandel).
Weingeister vor 150 Jahren: Was ist des Leben, da kein Wein ist?
Die Auseinandersetzung mit ernsthaften Problemen scheint der Redaktion nicht den Sinn für weinkulturelle Glossen genommen zu haben. So setzte sie sich am 15. April 1874 unter der Überschrift Wein Geister feinsinnig und humorvollmit der Kultur des Weines rund um den Globus auseinander. Da heißt es zum Beispiel:
„Der Wein erfreut des Menschen Herz.“ Als Bestätigung fehlt er bei keiner geselligen Zusammenkunft, deren Zweck das Vergnügen ist. Obwohl die ursprüngliche Heimath, Asien, unter der strengen Herrschaft Muhameds und seiner Nachfolger, teilweise den Genuss der saftigen Trauben verschmäht, so war der Wein auf den griechischen Inseln früher desto beliebter gewesen. […] Noch jetzt versetzt die Blume des Griechen-Weines den bedächtigen Weintrinker in sonnige Tage, […].“
„Spaniens feurigen Xeres-Wein genießen Albions Söhne mit besonderer Vorliebe und Bulwer [red. Anm.: Edward Bulwer-Lytton (1803-1873) war ein erfolgreicher englischer Romanautor] gar manchen seiner Helden beim funkelnden Glase Sherry tiefsinnige Gedanken fassen und ausbilden.“ […]
„Bordeaux liefert den Norddeutschen fast ebenso viel wirklichen Wein, wie andererseits nur den Namen für ein Kunstzeugnis. […]“
„Göthe führt in Hermann und Dorothea den klügelnden Apotheker und den behäbigen Vater in ein lockend kühles Trinkgemach und der Leser genießt mit den berühmten 1783er. Auch Hauff schildert in fantastischem Schwunge bis ins einzelne die Vorzüge der Rheinweine in Bremens ehrwürdigem Rathskeller. Leichter, doch nicht minder beliebt ist der freundliche Moseler, im Mai sich gern und viel mit dem Prinz Waldmeister vermählend.“ […]
„So schweben die duftigen Weingeister über die ganze Erde, anregend, begeisternd, stärkend und frohmachend und möchten Sie auch oft das zierliche Haupt verhüllen bei Thaten der Schmach ihrer allzu eifrigen Verehrer, so lächeln sie doch wieder froh, wenn von Ihnen entflammt der schaffende Künstler die schönen Bilder seiner Träume in Form und Wort fesseln kann, wenn der Rede Goldkörner der Wahrheit entspringen und leichtern Eingang finden, wenn sich ein altes Auge jugendlich belebt, ein welker Mund fröhlichen Erinnerungen Lauf gibt und greise Helden dem aufhorchenden Geschlecht der Nachkommen tapfre Züge mit Wonne aus der Vergangenheit hervortreten lassen. Jesus Sirach sagt: „Was ist das Leben, da kein Wein ist,“ und dieses Spruches eingedenk bauten selbst an der Saale Strande, an der Oder, in Meißen, in Schlesien die Einwohner den Weinstock an; ist er nicht edel, so ist er doch eigen.“
Die DWZ hatte offenbar keine Abonnenten an Saale, Elbe und ostdeutscher weinbaulicher Umgebung, sonst hätte die Redaktion wohl kaum diese Schlusspointe gesetzt.
RN/Juni 2024