Das Magazin Philosophie hatte in der Juni/Juli-Ausgabe der „Kraft des Nein-Sagens“ ein Dossier gewidmet. Darin findet sich unter anderem ein Artikel über „Rebellen der Philosophie“, hierzu werden Sokrates, Ludwig Wittgenstein, Simone Weil gezählt.
Weinkulturelle Aspekte - Juni
Ihnen werden – in der obigen Namensreihenfolge – die Kernsätze zugeschrieben: Nein zu Gewissheiten! Nein zum Überflüssigem! Nein zum Leid der anderen! Von den großen Philosophen geht es dann im Dossier weiter zu Menschen wie Du und Ich und deren persönlichen Neins. Und dort werde ich mit den vier folgenden Neins überrascht: Nein zur Arbeit. Nein zu eigenen Kindern. Nein zu Alkohol. Nein zu Sex. Ihre Beweggründe, merkt der Redakteur an, unterscheiden sich, die Bestimmtheit ihres Neins nicht. Vielleicht sind es doch nicht Menschen wie Du und Ich, denke ich, aber Normalitäten sind ja Ansichtssache bzw. in einer dynamischen Werteentwicklung.
Ich spare mir die Zeit darüber nachzudenken, welches der vier Neins bei mir die größte Verwunderung auslöst. Einige Gedanken mache ich mir dann doch darüber, warum von der Reaktion gerade diese vier Neins ausgewählt wurden. Warum nicht ein Nein zu Fernreisen oder Nein zu Kreuzfahrten, Nein zu Ripped-Jeans oder Nein zum Digital Detox. Das Nein zum Alkohol durfte natürlich nicht fehlen.
Flucht aus der Realität
Lu Netz heißt in dem Dossier die junge Frau, die Nein zu Alkohol sagt. Ich lese, dass sie schon seit ihrer Kindheit „den unbändigen Drang hatte, sich der langweiligen und banalen Alltagswirklichkeit“ zu entziehen. Das veranlasste sie, sich mit Alkohol zuzuschütten. Geprägt sei ihr Leben von der Suche nach einem Ausweg, einer Flucht aus der Realität. Deshalb habe sie viel getrunken, erst nicht übermäßig häufig, dafür umso mehr. Später sei aus dem zu viel auch noch ein zu oft geworden. Seit einem Klinikaufenthalt vor anderthalb Jahren sagt sie entschieden Nein zu jeder Art Rausch durch Alkohol, heißt es in dem Artikel. Und schmunzelnd sagt Lu Netz: „Hätte mir ein Arzt geraten oder vorgeschrieben, mit dem Trinken aufzuhören, hätte ich es vermutlich nicht getan. Es war meine freie Entscheidung“. Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich, geht mir so durch den Kopf.
Nach dieser schmunzelnden Offenbarung will die Redakteurin von Lu Netz wissen, ob an die Stelle des exzessiven Genusses die ähnlich exzessive Ablehnung jeder Art von Rausch getreten sei. Irritiert lese ich die Frage nochmals – von welchem Genuss ist hier die Rede? Auch die Antwort erstaunt mich: „Es geht darum, ein Maß zu finden.“ Mehr ergänzend als erklärend fügt Lu Netz hinzu, dass sie in einem Kunststudium einen Weg gefunden hat, Abstürze zu vermeiden.
Nein zum Überflüssigen
Als interessierter Leser des Artikels frage ich mich: Warum wird von der Redaktion diese Lebensgeschichte als „Kraft des Neinsagen zu den Gefahren des Alkohols“ verkauft? Warum wird nicht, wie die Herausgeberin Svenja Flaßpöhler, auf den nächsten Seiten des Dossiers fordert, der Fokus auf ein „Ja statt Nein“ gelegt? Auf ein Ja, das rechte Maß zu finden, wie es offenbar Lu Netz mit Hilfe der Kunst, nicht der Medizin, wie sie behauptet, gefunden hat. Und ich frage mich weiter: Warum müssen Menschen, die nicht der Realität entfliehen wollen, die Ja zur Alltagswirklichkeit sagen, die bereits ein verantwortungsvolles Maß für sich und die Gesellschaft gefunden haben, ausgehend von der WHO ein Nein zum Alkohol durch staatliche Eingriffe fürchten? Da sollte der Ratschlag des Philosophen Ludwig Wittgensteins befolgt werden, der ein klares Nein zum Überflüssigen sagte!
Autor: Dr. Rudolf Nickenig, Remagen