Dry January, Sober October oder die Fastenzeit – viele nutzen diese Zeit, um auf Alkohol zu verzichten. Doch wie ungesund ist das Genussmittel, das oft als „Gift“ bezeichnet wird? Mediziner Prof. Kristian Rett klärt über die aktuelle Datenlage auf.
Alkoholkonsum: Alte Wahrheiten und neue Desinformation
Nach einem vom neo-prohibitionistischen Zeitgeist geprägten Dry January und der Fastenzeit ist nun der Moment für die wissenschaftlich fundierte Gegenposition und die Antwort auf drei brennende Fragen:
Woher kommt die Erzählung, Alkohol sei in jeder Form und Dosis giftig? Wie erkennt man seriöse Gesundheitsinformationen? Wie ist es möglich, dass die UN-Sonderorganisation WHO von ihr selbst gesponserte Ergebnisse unterdrückt und stattdessen als Sprachrohr von Abstinenzorganisationen agiert? Gibt es zu den gesundheitlichen Auswirkungen moderaten Alkoholkonsums seriöse Quellen?
Nehmen wir also das Ende der christlichen Fastenzeit zum Anlass, uns von unseriösen Gesundheitsinformationen fernzuhalten.
Woher kommt die Erzählung, Alkohol sei in jeder Form und Dosis giftig („no safe level“)?
Die Weltgesundheitsorganisation WHO fördert seit 1992 mit maßgeblicher Unterstützung der philanthropischen Bill und Melinda Gates Stiftung die Global Burden of Disease Study, ein riesiges Datensammlungsprojekt, das für das Verständnis globaler gesundheitlicher Herausforderungen von großer Bedeutung ist. Unter „Burden of Disease“ ist die Krankheitslast zu verstehen, die als Zahl der verlorenen gesunden Lebensjahre (DALY; disability-adjusted life years) ausgedrückt wird. Aus diesem Projekt ist eine Analyse zum Thema Krankheitslast durch Alkoholkonsum hervorgegangen, die im renommierten Fachblatt Lancet in zwei Versionen mit diametral entgegengesetzter Aussage veröffentlicht wurde – wohlgemerkt von den gleichen Autoren.
Die Kernaussage der Erstversion von 2018 lautet: Alkohol führt in jeder Dosis zum Verlust gesunder Lebensjahre, es gibt keine Schwellendosis, keine risikoarme Dosis und schon gar keine gesundheitlichen Vorteile durch den moderaten Konsum, wie er etwa in der mediterranen Ess- und Trinkkultur verankert ist. Globale Abstinenz sei somit alternativlos und von den politisch Verantwortlichen durch steuerliche Maßnahmen und Verfügbarkeitsbeschränkungen anzustreben.
Die Zweitversion von 2022 kommt nach Berücksichtigung von Alter, Geschlecht und unterschiedlichen Weltregionen zu völlig anderen Ergebnissen und verwirft das globale Abstinenzparadigma: Alkohol führt nur bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen zum Verlust gesunder Lebensjahre, die Schwellendosis und die risikoarme Dosis liegen bei 0,5 bzw. knapp 2 Standardgetränken pro Tag. Ab dem 40. Lebensjahr geht geringer bis moderater Alkoholkonsum mit einem Überlebensvorteil und einem geringeren Herzinfarkt-, Schlaganfall- und Diabetesrisiko einher. Statt Abstinenz für alle werden Maßnahmen zur Minimierung des Alkoholkonsums bei jungen Erwachsenen gefordert.
Trotz dieses kuriosen Sachverhalts hat die Less Alcohol Unit derWHO 2023 einen „Leitfaden für Journalisten zur Berichterstattung über Alkohol“ veröffentlicht, in dem die widerrufene Erstversion als „Wissenschaftlicher Konsens“ präsentiert und der Widerruf verschwiegen wird.
Wie erkennt man seriöse Gesundheitsinformation?
Ob eine Gesundheitsinformation seriös ist, ist anhand der 15-Punkte-Checkliste (siehe Tabelle 2) erkennbar: Die Antworten auf zehn einfache W-Fragen und den TRINK-Spruch – Transparenz, Rechenschaft, Impressum, Neutralität und Kleptokraten-Einfluss – enttarnen den „Leitfaden für Journalisten“ der WHO durch Nichterfüllung der weitaus meisten Punkte als unseriös, was für die meisten Leser ziemlich überraschend sein dürfte. Aber zunächst zu den zugrundeliegenden Daten:
Bereits der Name der Less Alcohol Unit sowie der Blick in die Autorenliste enthüllen die institutionelle Voreingenommenheit: Knapp die Hälfte der Autoren gehören weltweit agierenden Abstinenzorganisationen an, während unabhängige Wissenschaftler oder ausgewiesene Kliniker in der Unterzahl sind.
Anerkannte Standards des wissenschaftlichen Prozesses werden von der WHO konsequent missachtet: So sind weder die Auswahl der Autoren noch deren Interessenskonflikte transparent, ebenso Details und Auswahlprotokolle der Literaturrecherchen, sowie Auswahl und Qualitätskontrolle der „sonstigen“ Datenquellen.

Gibt es zu den gesundheitlichen Auswirkungen moderaten Alkoholkonsums seriöse Quellen?
Was seriöse Gesundheitsinformation (SG) beinhaltet, zeigt der aktuelle Bericht der National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine. Dort fassen 14 angesehene US-Wissenschaftler die aktuelle Studienlage zum Konsum alkoholischer Getränke und Gesundheitsfolgen gemäß den Standards seriöser Gesundheitsinformation zusammen. Inhaltlich ist vor allem die Trennung von Nie-Trinkern und ehemaligen Trinkern bedeutsam, was den sick-quitter-bias („Verzerrung durch Personen, die wegen Erkrankungen aufgehört haben zu trinken“) eliminiert. Dabei zeigt sich, dass moderater Alkoholkonsum verglichen mit lebenslanger Abstinenz mit einem Überlebensvorteil einhergeht (16 Prozent geringeres Sterberisiko).
Schließlich hat die spanische Predimed-Forschergruppe kürzlich mit der Weinsäureausscheidung im Urin ein objektives Maß für den Weinkonsum etabliert, das endlich den reporting-bias („Verzerrung der wahren Trinkmenge durch Selbsteinschätzung mittels Fragebogen“) eliminiert und daher als Game-Changer anzusehen ist. Die Predimed-Hauptstudie hat auf höchstem Evidenzniveau belegt, dass das mediterrane Ess- und Trinkmuster kardiovaskuläre Ereignisse (tödlicher und nicht tödlicher Herzinfarkt und Schlaganfall) reduziert.
In der aktuellen Studie wurden Jungsenioren mit Übergewicht und einem hohen Diabetiker- und Raucheranteil neun Jahre lang beobachtet. Die Trinkmenge wurde sowohl mittels der subjektiven und fehleranfälligen Selbstauskunft, als durch die Weinsäureausscheidung im Urin ermittelt – einem objektiven Maß für den Weinkonsum der vergangenen Woche. Es zeigt sich, dass das Herzinfarkt- und Schlaganfall-Risiko nur durch die Weinsäureausscheidung vorhersagbar ist. Vor allem aber treten in der Gruppe mit niedriger bzw. moderater Trinkmenge gemäß Weinsäureausscheidung nur halb so viele Herzinfarkte oder Schlaganfälle auf, wie bei den lebenslang Abstinenten.
Fazit
Die Autoren der Global Burden of Disease Study haben 2022 ihre Schlussfolgerung von 2018 widerrufen, wonach Alkohol in jeder Form und Dosis giftig sei. Die WHO ignoriert diese Kehrtwende und gibt eine widerlegte Datenlage als wissenschaftlichen Konsens aus. Der einfältige Slogan vom „no safe level“ mag zwar einfach zu verstehen und zu vermitteln sein, aber er ist eben eine Falschinformation. Dadurch kann dem Einzelnen und der Gesellschaft Schaden zugefügt werden, weshalb wir Ärzte und Wissenschaftler aufgerufen sind, unsere gesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen und gegen Desinformation im Gesundheitswesen aufzustehen. Wissenschaftliche Wahrheit mag komplex und vielfältig sein. Um ihr wieder Gehör zu verschaffen, muss sie so prägnant, griffig und einprägsam formuliert verteidigt werden, daß der mediale Reichweitenvorteil der populistischen Vereinfacher aufgewogen wird. Was hätte der Jurist Michel de Montaigne, der aus der Dordogne stammt, wohl zum Thema Wein und Gesundheit gesagt? Vielleicht „Abusus non tollit usum.“ Missbrauch hebt den richtigen Gebrauch nicht auf.
Transparenzhinweis: Prof. Dr. Kristian Rett ist ehrenamtlicher Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Deutschen Weinakademie.
Quelle: The Pioneer, 20.04.2025
Foto: Prof. Dr. Kristian Rett - Quelle: privat