Vor 90 Jahren - Trink- und Verhaltensmuster in schwieriger Zeit
Der Wein erzählt Geschichte(n) Folge 8
Lachen, insbesondere moderates Lachen, soll gesund sein. Und daher dürfen wir gesundheitsfördernd über eine Schlagzeile in der Fachzeitschrift Das Weinblatt aus dem Jahr 1934 schmunzeln:
„Wine and Foot Society.
In London hat sich, wie der Times zu entnehmen ist, ein Verein für Essen und Trinken, eine Wine and Foot Society, der Mitglieder von Rang bereits angehören, gebildet […]. Der Präsident führte sehr treffend aus, die Mitglieder würden gewiß nicht leugnen, daß es in England eine große Zahl von Leuten gebe, die sich ohne jede Phantasie oder Intelligenz ernährten und dadurch manche vermeidbare Gesundheitsschädigung zuzögen. Mehr noch: anstatt sich bei ihrem Arzte einer Diät zu unterziehen, gingen diese Herrschaften zum nächsten Drogisten und beleidigten den gestörten Magen noch mit allen Arten von Pillen und Tabletten. […] Obwohl der Engländer lieber 7 Schillinge für ein Pfund Lachs als 3 Schillinge für ein Buch ausgibt, ist seine Küche noch der Verbesserung wohl fähig. Und nachdrücklich empfehlen wir ihm vor allem unser unvergleichliches deutsches Rebenblut.“[1]
Da hätten wir auch vor 90 Jahren der Redaktion zugestimmt und höchstens noch empfohlen, sich ein englisches Wörterbuch zuzulegen. Ernsthafter ist darauf hinzuweisen, dass der Verein als erste gastronomische Gesellschaft der Welt bereits 1933 vom gebürtigen Franzosen André Simon (1877–1970), Alphonse James Albert Symons (1900–1941) und einigen Freunden mit Hauptsitz in London gegründet wurde (siehe Abbildung). Das Hauptziel war und ist die Förderung der kultivierten Verwendung von qualitativ hochwertigen Genussmitteln wie Essen und Wein, nach dem Grundsatz „Nicht viel, aber das Beste“. Gleichzeitig wurde die Zeitschrift „Wine and Food“ gegründet, deren erster Herausgeber André Simon wurde. Zur Zeit der Gründung der Gesellschaft herrschte große wirtschaftliche Depression. Aber das Ende der Prohibition in den USA gerade im Gründungsjahr begünstigte ungemein das Anwachsen des Mitgliederstandes der neuen Gesellschaft für kultiviertes Essen und Trinken.
„Es ist kein Luxus, Wein zu trinken!“
Während 1934 in den Vereinigten Staaten die Alkoholregeln liberalisiert wurden, verspürten die Alkoholgegner in Deutschland nach der Machtübernahme der Nazis Rückenwind. Es war eher die Ausnahme, dass ein bedeutender NS-Politiker sich positiv im Sinne des Weinkonsums äußerte. Umso aufmerksamer wurden die nachfolgenden Äußerungen registriert und im Weinblatt unter der Überschrift „Es ist kein Luxus, Wein zu trinken!“ veröffentlicht:
„Der Landesobmann der NSBD[2] und Treuhänder der Arbeit für den Bezirk Rheinland, Staatsrat Willi Boerger veröffentlichte einen Aufruf an die gesamte deutsche schaffende Bevölkerung, der das Ziel verfolgt, mit den weit verbreiteten Vorurteilen über das Weintrinken aufzuräumen und von den Zeitungen weithin verbreitet wird. […] Marxistische Gleichmacherei habe das Weintrinken als kapitalistische Genusssucht hingestellt. Die sich aus dieser Einstellung ergebende Abneigung weiter Kreise gegen das Weintrinken habe zur Absatzstockung und zu dem großen Sinken der Weinpreise geführt. […] Schuld an den unwürdigen Löhnen der Winzerarbeiter seien nicht schlechter Wille der Winzer, sondern einzig und allein die Tatsache, daß Millionen Menschen der Ansicht seien, Weintrinken sei Luxus. Es sollen nun nicht etwa der Völlerei und Trinkerei das Wort geredet werden, sondern man wende sich nur gegen eine verderbliche wahnsinnige Auffassung über vernünftige Dinge des Lebens. […] Diese Auffassung eines hohen nationalsozialistischen Beamten zeigt mit aller wünschenswerten Deutlichkeit, daß die Regierung nicht willens ist, sich ihren Weg von weltfremden Moraltrompetern vorschreiben zu lassen, und daß ihr andere Mittel und Wege offen stehen, den Missbrauch alkoholischer Getränke durch kranke und verantwortungslose Menschen zu steuern, als dadurch, daß man den vernünftigen Genuss alkoholischer Getränke als ein Verbrechen an Staat und Volk brandmarkt.“[3]
Die vinophilen Leserinnen und Leser sollten sich bei diesen Zeilen nicht voreilig freuen. Zutreffendes bekommt einen faden Beigeschmack, wenn es aus einem verlogenen Mund kommt, wie dieses Beispiel des NS-Agitators Wilhelm Börger zeigt.[4]
Trinkmuster sagen mehr aus als Globalzahlen
In der gleichen Ausgabe bezichtigte die Redaktion des Weinblattes die Alkoholgegner, dass sie in ihrem Kampf gegen den Alkohol mit Vorliebe statistische Aufstellungen irreführend verwenden. Diesen – so die Redaktion - Missbrauch der Statistik machte sie an folgendem Beispiel deutlich:
„Herr Müller trinkt am Tage 1 l Bier oder Wein. Dieser einfache Tatbestand sagt nichts darüber aus, ob Herr Müller ein Säufer ist oder nicht, er wäre es, wenn er diesen Liter auf einem Sitz auf nüchternen Magen herunter trinke, er ist es nicht, wenn er etwa einen viertel Liter zum Mittagessen und einen viertel Liter zum Abendbrot trinkt und später im Freundeskreis den Rest. Er kann aber auch beim sogenannten Dämmerschuppen innerhalb einiger Stunden den Liter Bier oder Wein trinken. Es ist ohne weiteres klar, daß jedes Mal die Wirkung des auf den Tag angenommenen Quantums völlig verschieden ist. Dieses Beispiel zeigt, daß auch mit den Verbrauchszahlen pro Kopf der Bevölkerung im Großen und Ganzen garnichts anzufangen ist. Ein Verbrauch von 100 l pro Kopf und Jahr kann mäßig, er kann aber auch unmäßig sein.“[5]
Das Zitat ist 90 Jahre alt, hat aber seine Aktualität nicht verloren. Denn auch in der heutigen alkoholpolitischen Diskussion wird von Seiten der Alkoholgegner der Art und Weise des Konsums, wir reden heute von drinking patterns oder Trinkmustern, viel zu wenig Beachtung geschenkt. Auch in der Alkoholpolitik gilt – Vorsicht vor einfachen Antworten, denn die Lebensstile, die Ernährungsgewohnheiten, das soziale Verhalten, die persönlichen Einstellungen gegenüber Gesundheit und Wohlbefinden sind vielfältig und komplex.
[1] Das Weinmagazin (1934), S. 190.
[2] Nationalsozialistischer Deutscher Dozentenbund (NSDB)
[3] Das Weinmagazin (1934), S. 150.
[4] Wilhelm Börger wurde von der NSDAP als Redner eingesetzt, so u. a. als „NS-Arbeiteragitator“, und fand in dieser Funktion großen Anklang. Offensichtlich auch bei der Redaktion des Weinblattes. Dabei war Börger nicht irgendein NS-Politiker. Er war 1929 der NSDAP beigetreten, ab 1930 NS-Kreisleiter und ab 1932 Landesobmann. Bei der SS hatte Börger zuletzt den Rang eines SS-Brigadeführers. Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten hatte Börger im Mai 1933 einen Lehrauftrag für „Deutschen Sozialismus“ an der Universität Köln erhalten. 1938 (also vier Jahre nach dem zitierten Artikel) wechselte er als Ministerialdirektor mit Zuständigkeit für die Verwaltung des Ministeriums und der nachgeordneten Dienststellen in das Reichsarbeitsministerium. Ab November 1944 war er für das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS tätig. In seinem Entnazifizierungsverfahren wurde er zunächst in die Kategorie III („Minderbelastete“), später in die Kategorie IV („Mitläufer“) eingestuft.
[5] Das Weinmagazin (1924), S. 152.
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RN/22.11.2024